Wahrheit

Wahrheit hat für den gesamten Glaubensinhalt der Bibel eine hohe Bedeutung. Es ist die Grundlage der Gotteserkenntnis. Die Verwendung in der Lutherbibel kann nicht immer wegweisend sein. Die hebräischen Worte für diesen Begriff drücken das Feste, Beständige, Bewährte und Zuverlässige aus. Im griechischen Neuen Testament wird das, was „nicht verborgen“, sondern offenbar ist, dadurch ausgesprochen. Der unterschiedliche sprachliche Ausgangspunkt macht sich in der Sache im ganzen Umkreis beider Testamente deutlich bemerkbar. Das ist zu beachten, damit das gleichlautende deutsche Wort der Übersetzung dem Leser nicht die Fülle und Vollständigkeit des ursprünglichen Sinnes verbirgt.

Wenn meistens in der Bibel von Wahrheit die Rede ist, wird damit die göttliche Offenbarung der Erkenntnis und des Lebens erschlossen. Das Wort der Wahrheit bringt dann zum Bewusstsein, dass sich hier alles um eine volle Wirklichkeit handelt. Die im Alten Testament oft gerühmte Wahrheit Gottes zeigt die Zuverlässigkeit Gottes und die Wirklichkeit Seines Waltens. Was beim Menschen Stückwerk ist, denn alle Menschen sind Lügner (Römer 3,4), ist in Gott vollkommen. In den Psalmen wird diese Vollkommenheit Gottes immer wieder gerühmt. Alles, was von Gott kommt, bewährt sich als absolute Zuverlässigkeit. Luther übersetzt oft das betreffende Wort „aemeth“ mit Treue. Gottes Wahrheit im Gericht über die Völker (Psalm 96,13; Psalm 98,2), in Seinen Geboten (Psalm 19,10; Psalm 119,86.142.151), in Seinen Ratschlüssen und Wegen (Psalm 25,10; Jesaja 25,1), in Seinen Verheißungen (Psalm 132,11; Psalm 33,4; Psalm 119,160) wird mit „Treue“ meistens nur ungenau wiedergegeben. Die Zusammenstellung von Wahrheit und Gerechtigkeit (Psalm 40,11; Psalm 89,15; Psalm 111,7) offenbart den Sinn von unbedingter Zuverlässigkeit. Gottes Wahrheit erscheint oft wie eine mächtige Gestalt, die in Gottes Umgebung Seines Winkes wartet (Psalm 89,9), die vor Ihm hergeht (Psalm 89,15); sie wird zum Geleit der Gläubigen gesandt (Psalm 33,3; Psalm 89,25). „Gnade und Wahrheit“ (Psalm 89,15), „Güte“ (Psalm 36,6), „Barmherzigkeit“ (1. Mose 24,27), „Licht“ (Psalm 43,3) erscheinen als Begriffspaare. Gottes Wahrheit ist ein Schirm und Schild (Psalm 91,4).

Im Neuen Testament ist Wahrheit eines der vielsagendsten Grundworte für die Sprache des Johannesevangeliums und der Johannesbriefe. Im Bereich der Offenbarung Gottes in Christo erscheint die Wahrheit als Gottes Wirklichkeit und alles dessen, was in Ihm lebt und Ihm angehört, als eine Wirklichkeit in vollstem Sinne des Wortes. Der Johanneische Wahrheitsbegriff ist ein fester und sicherer Bestandteil der Heilsverkündigung.

Es heißt nicht bei Johannes: „Gott ist die Wahrheit“, er spricht auch nicht wie in Römer 1,25 von der „Wahrheit Gottes“. Johannes aber bezeichnet es als die Aufgabe des Sohnes Gottes, die Menschen zur Erkenntnis des Wahrhaftigen und in Gemeinschaft des Wahrhaftigen zu führen (1. Johannes 5,20). Der Wahrhaftige ist Gott, denn Er ist die Wahrheit. Damit stimmt das Zeugnis Jesu überein, dass Gott wahr ist (Johannes 3,33; vgl. Johannes 8,26; Johannes 7,28). Gott ist nach Johannes die Wahrheit in der Offenbarung des Sohnes. Alle johanneischen Aussagen über Gott wurzeln in der Offenbarung im Sohne.

Der Eingeborene vom Vater steht vor dem Glaubensauge des Evangelisten als geschichtliche Erscheinung voller Gnade und Wahrheit (Johannes 1,14). Gnade und Wahrheit waren der Inhalt Seines Wesens. Sein Denken, Reden und Wirken war von göttlicher Gnade und Wahrheit erfüllt. Ähnlich werden diese beiden Begriffe zusammengeordnet in Johannes 1,17: „Die Gnade und die Wahrheit ist durch Jesum Christum geworden.“ Das heißt, die Gnade und die Wahrheit ist uns durch Ihn zuteil geworden. Gnade hat hier den Sinn von göttlicher Huld, die dem Menschen das Heil schenkt. Es ist die Heilsgabe in der Befreiung von Sünde und Schuld. Der Begriff Wahrheit bringt zum Ausdruck, dass in der Heilsgabe die volle Wahrheit Gottes erschlossen wird. Wer mit dem johanneischen Denken vertraut ist, sieht hier die Gaben wie Leben, Licht, Liebe. Ein weiteres Wort des Johannesevangeliums zeigt diesen Sinn: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Johannes 14,6). Bei aller Zusammenordnung hat jeder dieser drei Begriffe seinen besonderen Gedanken. Weg drückt eine Vermittlung aus, Wahrheit und Leben sind Sachbegriffe. Wenn Jesus die Tür genannt wird (Johannes 10,7.9), wird Er hier als der Weg bezeichnet. In Jesu Dasein, Reden und Wirken bestehen alle Gottesgaben für die Menschen. Jedes Seiner Worte und Werke ist eine Bejahung Gottes, Er Selbst ist die persönliche Bejahung Gottes, dadurch ist Er Selbst die Wahrheit. Jesus ist der Führer zu Gott. Mit ganzer Bestimmtheit sagt Er: „Niemand kommt zum Vater denn durch mich“ (Johannes 14,6). Er ist der Weg zu Gott, weil Er die Verkörperung der Wahrheit und des göttlichen Lebens ist. Die Wahrheit ist demnach die volle Erkenntnis und Erfahrung Gottes, das ist wiederum mit dem Leben identisch. Das wird durch das Wort in Johannes 17,3 bestätigt, wonach das Leben darin besteht, dass die Menschen den allein wahren Gott erkennen und Jesum Christum, den Gott gesandt hat. Die Wahrheit ist als vollkommene Gotteserkenntnis zu verstehen (Johannes 1,14.17; Johannes 14,6). Auf der gleichen Linie liegt das Verständnis einer Reihe von anderen Stellen. Jesu Verkündigung ist die Wahrheit (Johannes 18,37). Die Erkenntnis der Wahrheit besitzt eine freimachende Kraft (Johannes 8,32). Der Apostel erklärt, dass sich die Wahrheit nicht mit der Sünde und dem Nichthalten der Gebote verträgt (1. Johannes 1,6.8; 1. Johannes 2,4). Die Anbetung Gottes besteht im Geist und in der Wahrheit (Johannes 4,24). Die wahre Anbetung gründet sich auf Erkenntnis Gottes, die Gott Selbst durch den Sohn darbietet. Die Wahrheit ist Gotteserkenntnis, weil der Heilige Geist, der Geist der Wahrheit genannt wird (Johannes 14,17; Johannes 15,26; Johannes 16,13). Gott leitet durch den Geist die Gläubigen in alle Wahrheit, was eine umfassende Erkenntnis der Vollkommenheit und des Willens Gottes ist. Der 2. und 3. Johannesbrief bietet auch für diese Bedeutung Belege. In 3. Johannes 8 heißt es, dass die wahren Gläubigen Mitarbeiter für die Wahrheit sind. 2. Johannes 1,2 spricht vom Bleiben in der Wahrheit und nennt die Gläubigen, welche die Wahrheit erkannt haben.

Alle diese Schriftzeugnisse begründen, dass die Wahrheit Gottes Gabe in Christo an die Menschheit ist und dass Jesus die Wahrheit selbst verkörpert. Die Wahrheit besteht auch unabhängig von Christus, denn Er ist der Zeuge der Wahrheit (Johannes 18,37), was auch von Johannes dem Täufer ausgesprochen wird (Johannes 5,33). In der Person Christi aber ist die gegenwärtige und erfassbare Wirklichkeit. Wenn die Wahrheit Gotteserkenntnis ist, dann ist Jesus der Inhaber der Wahrheit, nicht weil Er im vorzeitlichen Dasein an des Vaters Busen ruhte, sondern weil Er in zeitloser und ewiger Lebensgemeinschaft mit Gott verbunden ist. Er hat die Wahrheit geschaut und gesucht und Er kann sie offenbaren. Jesu Wirken ist nicht allein Verkündigung der Wahrheit, sondern auch göttliche Tat. Jesus trat auf im öffentlichen Leben, Sein Lebensgeschick war von der Aufnahme der Wahrheit abhängig. Der vollkommene Erkenntnisbesitz entspricht bei Jesus der völligen Hingabe an die Wahrheit. Bei Ihm vollzieht die Wahrheit sich im Willen. Sie ist dadurch im höchsten Sinne ethisch bedingt. Die Jünger besitzen Wahrheit in der Aufnahme des Wortes Christi, im lebendigen Zusammenhang mit der Person des Herrn und in der Begabung mit dem Geist. Das Gegenteil der Wahrheit ist Unwissenheit (Johannes 15,5), was nicht nur an dieser Stelle im intellektuellen Sinne zu verstehen ist. Der Widerspruch gegen die Wahrheit liegt auch deutlich auf sittlichem Gebiet. Der Teufel hat in der Wahrheit nicht bestanden, weil die Wahrheit nicht in ihm ist, denn sein Grundelement ist die Lüge (Johannes 8,44). Es ist der Gegensatz zum Geist der Wahrheit (1. Johannes 4,6) vor allem der Geist der Verführung.

Damit kommt die eigentliche Prägung des johanneischen Wahrheitsgedankens zur Geltung. Die Wahrheit ist nach seiner Auffassung nicht nur die Gabe Christi, sondern die Menschen haben auch ein Verhältnis zu ihr. Wer aus der Wahrheit ist, hört die Stimme des Herrn (Johannes 18,37). Ähnlich wirft der Herr den Juden vor, dass sie die Verkündigung der Wahrheit von sich weisen (Johannes 8,46), weil sie nicht von Gott sind. Verwandt damit ist die Vorstellung, dass nur zu Jesus kommen kann, den der Vater zieht (Johannes 6,64.65). Jesu Aufgabe besteht eben darin, dass Er die zerstreuten Kinder Gottes zur Einheit zusammenführt (Johannes 10,16; Johannes 11,52). Es gibt eben solche, die nicht aus der Welt sind, sondern Gott gehören, die der Vater dem Sohne gegeben hat (Johannes 17,6-16). Das Tun des Menschen wird auch in diesen Gedanken einbezogen (Johannes 3,19-21). Wer die Wahrheit tut, kommt an das Licht, damit seine Werke als in Gott getan kundwerden; wer Böses tut, hasst das Licht und kommt nicht zum Licht, damit seine Werke nicht überführt werden. Nathanael und Pilatus standen zunächst der Wahrheit neutral gegenüber. Pilatus wusste nicht, was Wahrheit ist, weil er kein Verständnis für Jesus hatte. Nathanael, ein echter Israelit ohne Falsch, bekannte Ihn als Sohn Gottes und König von Israel. Wahrheit ist eine Lebensbetätigung im Sinne des vollkommenen Gotteswillens (1. Johannes 1,6 - 2,4; 1. Johannes 3,18; Johannes 8,43). Es ist daher logisch, dass ein Gotteskind nicht sündigen kann (1. Johannes 3,9).

Wer die Wahrheit tut, ist aus der Wahrheit. Es können nur diejenigen zu Jesus kommen, die der Vater Ihm gibt (Johannes 6,37.39.44.65; Johannes 17,2.6; Johannes 9,24). Die Seinen sind aus der Welt erwählt (Johannes 15,19), sie zieht Er alle zu Sich (Johannes 12,32). Jesus bittet nicht für die Welt (Johannes 17,9), sie kann den Geist der Wahrheit nicht empfangen (Johannes 14,17). Gotteskinder sind aus der Wahrheit, sie hören Jesu Stimme, der Vater zieht sie zum Sohne. Das Sein aus der Wahrheit ist keine Naturanlage des Menschen, sondern es ist Empfänglichkeit für Gottes und Jesu Gabe. Das Sein aus der Wahrheit und das Tun der Wahrheit vollzieht sich, wenn Gottes Gegenwart im Menschen wirksam ist.

Abraham Meister "Namen des Ewigen"

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